Andreas Scherer, «Vom Sinn prophetischer Gerichtsverkündigung bei Amos und Hosea», Vol. 86 (2005) 1-19
Recently it has been proposed that announcements of judgment,
like the ones to be found in the minor prophets Amos and Hosea, on principle are
to be considered as vaticinia ex eventu. Even the traditions of
salvation, employed to reinforce different kinds of reproach, are held to be the
work of learned redactors. However, these hypotheses are supported neither by
the evidence from the ancient Near East nor by the logic underlying prophetical
proclamations of judgment themselves, for sheer announcements of punishment
could only be meaningless in times of doom as well as during periods of
recovery. Old Testament prophecy of doom is no complete stranger among the
religions of the ancient Near East. It owes its uniqueness not to the kind or
genus, but only to the complexity of its message.
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(58), läßt sich daraus gleichwohl nicht ableiten, denn wenn die “Jung-
frau Israel†fällt (Am 5,2), dann fällt nicht nur das Haupt, sondern es
fallen auch die Glieder. Die Unheilsszenarien, die Amos entwirft, sind
vielfach nicht dazu angetan, die Hoffnung darauf zu nähren, das Ge-
richt träfe nur das Unkraut, aber nicht den Weizen (59).
Amos entwickelt aufs Ganze gesehen keine positive Ethik. Trotz-
dem hat seine Botschaft eine ethische Dimension. Indem Amos das
Verhalten, das ins Verderben führt, verurteilt, zeigt er zugleich sub
contraria specie Alternativen auf. Kein Schuldaufweis, der mit Ernst
gehört wird, läßt sein Publikum unverwandelt. Welchen Sinn kann
Veränderung aber dort haben, wo das Gericht wirklich nur das Ende
und nichts als das Ende bedeutet?
Es ist Amos zur Gewißheit geworden, daß auf das Nordreich eine
nationale Katastrophe zukommt. Sie wird die Fundamente von Staat
und Kult nachhaltig erschüttern. Das Ende allen Lebens ist damit je-
doch nicht zwangsläufig vorausgesetzt (60). Wer könnte sonst das ver-
zweifelte “Wehe! Wehe!†ausrufen, das man laut Am 5,16-17 “auf al-
len Plätzen†und “auf allen Gassen†als Reaktion auf das Unheil
anstimmen wird?!
Vielleicht sollte man auch die Verse aus Am 5,14-15, die ich an
den Schluß meiner Ausführungen stelle, dem Propheten nicht mit der
Selbstverständlichkeit absprechen, wie dies häufig geschieht (61) oder
(58) So z.B. H. REIMER, Richtet auf das Recht! Studien zur Botschaft des Amos
(SBS 149; Stuttgart 1992) 229: “Die Unheilsankündigungen des Amos sind so-
zial- und schichtenspezifisch ausgerichtet, sie betreffen nicht das Volksganzeâ€.
(59) So läßt sich die schädigende Wirkung von Heuschrecken und Feuer, die
in den beiden ersten Visionen (Am 7,1-3.4-6) das Unheil repräsentieren, kaum
schichtenspezifisch einschränken. Zwar vermag Amos diese beiden Katastrophen
noch abzuwenden, doch auch wenn JHWH in der dritten Vision (Am 7,7-8)
“Zinn†(hebr.: ’anËk; akk.: annakum) mitten unter sein Volk bringt und es damit
der Waffengewalt aussetzt, bedeutet dies ein Verderben globalen Ausmaßes. Ge-
wiß sind die Krieger zuallererst davon betroffen (vgl. Am 2,14-16). Aber die Ver-
heerung, die die kriegerische Invasion mit sich bringt und nach sich zieht, kann
auch für die übrige Bevölkerung nicht ohne Folgen bleiben.
(60) Vgl. KOCH, Profeten, 124.
(61) Vgl. etwa H.W. WOLFF, Dodekapropheton 2. Joel und Amos (BKAT
XIV/2; Neukirchen-Vluyn 31985) 274; JEREMIAS, Amos, 71. Dagegen hielt W.
RUDOLPH, Joel-Amos-Obadja-Jona (KAT XIII/2; Gütersloh 1971) 185, 191 am
amosischen Ursprung von Am 5,14-15 fest und sah darin die unmittelbare Fort-
setzung von Am 5,4-5. SCHMIDT, Zukunftsgewißheit, 22 läßt die Entscheidung of-
fen und schließt damit die Möglichkeit zumindest nicht kategorisch aus, daß diese
Worte, die einen Beitrag zur Wahrung der “Einheit der Amosbotschaft†leisten,
auch auf Amos selbst zurückgehen könnten.