Armin D. Baum, «Der mündliche Faktor: Teilanalogien zu den Minor Agreements aus der Oral Poetry-Forschung und der experimentellen Gedächtnispsychologie», Vol. 85 (2004) 264-272
The view taken by G.D. Fee and others that oral tradition
played a major role in the development of the minor agreements is supported by
analogies from oral poetry (M. Parry – A.B. Lord) and cognitive psychology (E.
Hunt – T. Love).
270 Armin D. Baum
Test. VP, Jahrgang 1935, stammte aus Lettland und besuchte zwischen 1945
und 1950 eine Schule, an der aus Mangel an Büchern und anderen
Lehrmitteln großes Gewicht auf reines Auswendiglernen gelegt wurde. So
war er nach einem Streitgespräch in der Lage, sich die eigenen und fremden
Äußerungen nahezu wörtlich ins Gedächtnis zurückzurufen. Seiner eigenen
Einschätzung nach stellte VP unter seinen Altersgenossen, die ein ähnliches
Schulsystem durchlaufen hatten wie er, keine Ausnahme dar (19).
In einem der Experimente zur Bestimmung der Gedächtniskapazität
VPs, die an der Washingtoner Universität durchgeführt wurden, hatte VP
parallel zu zwei Kontrollgruppen eine Erzählung zweimal durchzulesen,
anschließend in Siebenerschritten rückwärts von 253 bis 0 zu zählen und die
Erzählung anschließend nach einer Minute, einer Viertel-, einer halben, einer
Dreiviertel- und einer Stunde niederzuschreiben. Weitere Reproduktionen
wurden unangekündigt nach sechs Wochen und nach einem Jahr verlangt. Als
Textgrundlage wählten Hunt und Love u.a. das erstmals von Bartlett
verwendete Volksmärchen vom “Krieg der Geisterâ€.
Im Unterschied zu den Gedächtnisleistungen der von Bartlett untersuch-
ten Probanden, in deren Biographie das Auswendiglernen von Texten keine
bedeutende Rolle gespielt hatte, konnte VP den Wortlaut des Volksmärchens
auch nach einem Jahr noch zu rund 50% reproduzieren. Im folgenden sind
die ersten rund 100 Wörter dreier Wiedergaben abgedruckt, die VP nach einer
Stunde (Fassung A), nach sechs Wochen (Fassung B) und nach einem Jahr
(Fassung C) niederschrieb (20). Auch hier sind die positiven Agreements durch
Fettdruck, Unterstreichung und Kursivdruck hervorgehoben.
Fassung C Fassung A Fassung B
(nach einem Jahr) (nach einer Stunde) (nach sechs Wochen)
One day two young men from One night two young men One night, two young men
Egliac went down to the river from Egulac went down to the from Egliac went down to the
to hunt seals. river to hunt seals. river to hunt seals.
While there, it suddenly While they were there, it While they were there, it
became very foggy and quiet, became foggy and calm. They became foggy and calm.
and they became scared and came ashore quietly and hid
rowed ashore and hid behind a behind a log.
log.
Soon they heard the sound of Soon they heard canoes Soon they heard the sound of
paddles in the water and approaching and the sound of paddles approaching, and
canoes approaching. paddling. they thought: “Maybe it’s a
war partyâ€. They fled ashore
and hid behind a log.
(19) “How Good Can Memory Be?â€, Coding Processes in Human Memory (eds. A.W.
MELTON – E. MARTIN) (Washington 1972) 237-260.
(20) Die Texte finden sich bei HUNT – LOVE, “How Goodâ€, 258-260, und bei ID., “The
Second Mnemonist†(1972), Memory Observed. Remembering in Natural Contexts (ed. U.
NEISSER) (San Francisco 1982) 390-398, hier 396-398. Für eine ausführliche
Dokumentation des gesamten Volksmärchens und eine Analyse der Übereinstimmungen
und Abweichung der nach einem Jahr angefertigten Wiedergabe siehe A.D. BAUM,
“Experimentalpsychologische Erwägungen zur synoptischen Frageâ€, BZ 42 (2000) 37-55.