Michael Sommer, «Die literarische Konzeption von räumlicher und zeitlicher Wahrnehmung in der Johannesoffenbarung.», Vol. 96 (2015) 565-585
This article proposes that the Book of Revelation does not have a single concept of space and time. In contrast, John lets his first person narrator experience different modes of time and space, and his temporal and spatial perceptions begin to change caused by God's action in history. Thereby, John wants to highlight God's power over his creation in order to criticize and to polemicize the Roman imperial cult and its particular understanding of time.
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Ortsangaben zurückgegriffen, die die Eckpunkte des gesamten Kosmos
markieren (gh/, ouvrano,j, qa,lassa, h[lioj, selh,nh und avsth,r). Mit
diesen spielt er, um bei einer gleichbleibenden Wahrnehmungsper-
spektive des Ich-Erzählers den Effekt zu erzielen, dass sich der
Raum nach Offb 6,12 anders zeigt. In Offb 6,1-11 werden Gescheh-
nisse räumlich nur sehr vage, und wenn überhaupt nur mit gh/ lokal
näherbestimmt. Dass Ereignisse im Himmel stattfinden, muss in die-
sem Abschnitt aus dem Kontext erschlossen werden. Erst ab Offb
6,12 reichert Johannes den Wortschatz des Ich-Erzählers mit Loka-
lattributen an, deren Semantik den Bereich der Erde übersteigt. Ouvrano,j
tritt neben gh/, aber auch Himmelskörper wie h[lioj selh,nh und
avsth,r zieren den Text von nun an regelmäßig. Die Raumdarstellung
innerhalb der Tag des Herrn-Szene ist also wesentlich feiner, wenn
nicht sogar hochauflösender als in den ersten fünf Siegelvisionen.
2. Offb 6,12-17 und eine umgestaltete Schöpfungstheologie 30: Ana-
log zum Zeitkonzept, das ab 6,12 neu definiert wird, ist Offb 6,12-17
der Anfangspunkt eines durativen Wandels innerhalb der literari-
schen Rauminszenierung 31. Gott begegnet in Offb 6,12-17 imma-
nenten Zusammenhängen und dies verändert nachhaltig, wie der
Ich-Erzähler seine räumlichen Sinneseindrücke in seine Narration
einfließen lässt. Ab der sechsten Siegelvision hat nun jede einzelne
der noch folgenden Visionen einen kosmologischen Unterton. Dafür
inszeniert Johannes eine bis jetzt noch wenig beachtete Facette der
Schöpfungstheologie. Der Ich-Erzähler bestimmt fast jede der Vi-
sionen lokal so näher (Offb 8,7.8.10.12; 16,2.3.4.8), dass dadurch
ein Rückbezug auf die drei Schöpfungsbaupläne (Offb 5,13; 10,6;
14,7) entsteht, in denen innerhalb eines Verses alle Eckpunkte des
literarischen Raumes genannt werden und Gott als ihr Schöpfer er-
scheint (ouvrano,j, gh/, qa,lassa und phgh. u`da,twn). (Nebenbei re-
giert Gott gemäß diesen Textstellen nicht nur über den Schöpfungsraum,
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Bisherige Abhandlungen zur Schöpfungstheologie betrachteten die apo-
kalyptischen Visionszyklen nicht, da hier nur implizit von der Schöpfung ge-
sprochen wird. Vgl. z.B. F. HAHN, “Die Schöpfungsthematik in der
Johannesoffenbarung”, Eschatologie und Schöpfung. Festschrift für Erich
Gräßer zum siebzigsten Geburtstag (eds. M. EVANG – H. MERKLEIN – M.
WOLTER) (BZNW 89; Berlin – New York 1997) 85-93; J. ROLOFF, “Neuschöp-
fung in der Offenbarung des Johannes”, JBTh 5 (1990) 119-138. Vgl. hierzu
den Forschungsüberblick und die Kritik von T. NICKLAS, “Schöpfung und
Vollendung in der Offenbarung des Johannes”, Theologies of Creation in
Early Judaism and Ancient Christianity. In Honour of Hans Klein (eds. T.
NICKLAS – K. ZAMFIR) (DCL.ST 6; Berlin – New York 2010) 389-414, v.a. 389.
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Vgl. hierzu ausführlich SOMMER, Plagen, 133-137.