Armin D. Baum, «Der mündliche Faktor: Teilanalogien zu den Minor Agreements aus der Oral Poetry-Forschung und der experimentellen Gedächtnispsychologie», Vol. 85 (2004) 264-272
The view taken by G.D. Fee and others that oral tradition
played a major role in the development of the minor agreements is supported by
analogies from oral poetry (M. Parry – A.B. Lord) and cognitive psychology (E.
Hunt – T. Love).
Der mündliche Faktor 267
In diesen Paralleltexten von rund 50 Wörtern Länge stehen 12 (mt-lk)
Minor Agreements einerseits 12 mt-mk Agreements und andererseits 5 mk-lk
Agreements gegenüber. Es stellt sich die Frage, ob ein analoger Befund auch
im Bereich der mündlichen Dichtung (Teil 2) und im Bereich der
Gedächtnispsychologie (Teil 3) nachweisbar ist.
2. Eine Analogie aus der Oral Poetry-Forschung
Die mündliche Dichtung, speziell die mündliche Epik, die schriftlos
entsteht und überliefert wird (engl. ‘oral poetry’)(14), hat sich bei einigen
Völkern bis in die moderne Zeit erhalten. Einen wesentlichen Fortschritt
machte die Erforschung des mündlichen Epos, als seit den 30er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts Milman Parry und sein Schüler Albert B. Lord in
entlegenen Gebieten Jugoslawiens rund 12.000 solcher Texte von 200 bis zu
13.000 Versen Länge (bzw. 16 Stunden Vortragsdauer) aufzeichneten.
Eine der zentralen Beobachtungen, die Parry und Lord anhand dieser
(serbo-) kroatischen Texte, die heute in der Harvard University deponiert
sind, machten, betraf deren Wortlaut. Wie die Forscher feststellten, wieder-
holten die südjugoslawischen Epensänger (Guslare) ihre mündlichen Dich-
tungen niemals in derselben Form. Sie komponierten jedesmal, wenn sie ein
Epos vortrugen, im Rahmen seines Erzählgerüsts (und aus einer Fülle
stereotyper Formeln und Motive) eine neue Fassung desselben. Im Zuge jedes
mündlichen Vortrags entstand, ohne daß die Sänger sich dessen voll bewußt
gewesen wären, ein neues Werk (“composition during oral performanceâ€).
Dabei spielte das wörtliche Auswendiglernen eines vorgegebenen Stoffes
eine untergeordnete Rolle (15).
Ein solches mündliches Epos Jugoslawiens, das von verschiedenen
Sängern vorgetragen wurde, trägt den Titel “Der Sänger von Bagdadâ€. Eine
1934 von Salih Ugljanin vorgetragene Fassung beginnt, nach einem kurzen
Prolog, folgendermaßen (16):
Jednom vaktu a starom zemanu, Once in the days of old,
Sultan Seljim rata jotvorijo Sultan Selim declared war
Sa kraljicom od grada Bagdata. on the queen of the city of Bagdad.
E! Spremi sultan sto hiljada vojske, The sultan sent an army of a hundred thousand men,
Jenji≈ara sina njegovoga, the Janissaries, his sons,
A sa vojskom kuhvet i topove. and with the army he sent ammunition and cannon.
Spremi π njima paπe i vezire, He sent with them also his pashas and viziers,
Pa sidoπe do grada Bagdata. and they marched to the city of Bagdad.
Bijo Bagdat dvadeset godina They attacked Bagdad for twenty years,
Bez promena danjem i po no£i, day and night without ceasing,
(14) Einen Einstieg in diese Forschungsrichtung bieten E.R. HAYMES, Das mündliche
Epos. Eine Einführung in die “Oral Poetry†Forschung (Stuttgart 1977) und P. ZUMTHOR,
Oral Poetry. An Introduction (franz. 1983; Minneapolis 1990). Die neueste Literatur nennt
G. VON WILPERT, “Oral Poetryâ€, Sachwörterbuch Literatur (Stuttgart 82001) 576.
(15) A.B. LORD, The Singer of Tales (Cambridge 1960) bes. 99-123, etwa 119-120; vgl.
W.T. WALLACE – D.C. RUBIN, “Memory of a Ballad Singerâ€, Practical Aspects of Memory.
Current Research and Issues (ed. M.M. GRUENBERG u.a.) (Chichester 1988) I, 257-262.
(16) Der Originaltext findet sich in Serbocroatian Heroic Songs (eds. M. PARRY – A.B.
LORD ) (Cambridge 1953-54) II, 8, die englische Ãœbersetzung von LORD ebd. I, 68.