Michael Sommer, «Die literarische Konzeption von räumlicher und zeitlicher Wahrnehmung in der Johannesoffenbarung.», Vol. 96 (2015) 565-585
This article proposes that the Book of Revelation does not have a single concept of space and time. In contrast, John lets his first person narrator experience different modes of time and space, and his temporal and spatial perceptions begin to change caused by God's action in history. Thereby, John wants to highlight God's power over his creation in order to criticize and to polemicize the Roman imperial cult and its particular understanding of time.
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wirklich beachteten Erzählkonzepts, dass mehrere Konzeptionen
von Zeit in sich vereint. Dafür benutzte Johannes gleich mehrere
Techniken, mit denen man Zeit und Zeitwahrnehmung in erzäh-
lende Texte einbinden kann. Direktaussagen in Form von direkten
oder indirekten Reden oder Erzählerkommentare, wie sie in Offb
10,6-7 und Offb 14,6-7 begegnen, sind nur ein Teil davon. Aus-
schlaggebender ist der Verbgebrauch, der sich immer dann ändert,
wenn wesentlich einfacher darstellbare Änderungen in der Raum-
wahrnehmung stattgefunden haben. Wie Johannes Zeit und Ewig-
keit in Offenbarung 4 wahrnimmt, ist also kein singuläres Phänomen,
sondern der Ausgangspunkt einer mittels Verben gesteuerten dyna-
mischen Zeitkonzeption, die mehrfach an jenen Stellen in sich ge-
brochen ist, an denen sich die Raumwahrnehmung des Ich-Erzählers
verändert.
Dass die geraffte Zeit in Offb 6,12 – 16,21 die Geschichte deter-
minieren und Gottes Handeln unterordnen will, zeigt sich auch in
Offenbarung 12–14. Denn letztendlich ist es dieser Textabschnitt,
in dem die Determination von Zeit schlechthin zum Ausdruck
kommt, Teil der Makrostruktur Offb 6,12 – 16,21, die inhaltlich auf
Offb 6,9-11 reagiert. Wenn also Johannes in Offb 11,2.3.11;
12,12.14; 13,5.10; 14,12 Gott den Zeitraum der widergöttlichen
Mächte und ihrer Wirkmächtigkeit mit der Zahlensymbolik aus Da-
niel begrenzen lässt, wird damit dieselbe Aussage erzielt wie mit
dem Gebrauch von kai. evge,neto + Leitmotiv.
VII. Ort und Macht – die pluralen Räume der Offenbarung
Die politische Kritik von Offb 10,6-7 und Offb 14,6-7 vereint
Aussagen über Ewigkeit mit einer Schöpfungstheologie. Auch Offen-
barung 4 inszeniert Gottes Ewigkeit und Unzeitlichkeit in Einklang
mit der Vorstellung eines Schöpfers, bzw. eines Herrschers über die
Schöpfung (Offb 4,11; 5,13). Zeit und Schöpfungsraum sind also
aufeinander bezogen. Ich möchte zeigen, dass beides stärker miteinander
verzahnt ist als bisher angenommen wurde, denn Johannes lässt
seinen Ich-Erzähler immer dann den Raum anders wahrnehmen,
wenn sich die Zeitstruktur seines Werkes verschiebt. Oder anders:
Das Tempusgefüge ändert sich immer dann, wenn Johannes Räum-
lichkeiten verschiedenartig erfasst und beschreibt. Dies muss ebenso
im Kontext seiner soziokulturellen Kritik gelesen werden. Letztend-