Ulrich Victor, «Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums», Vol. 22 (2009) 55-90
In a contaminated manuscript tradition there is no such thing as a 'good' manuscript or a 'good' group of manuscripts. The right reading may be found anywhere in this tradition, even in the smallest parts. There is no other means of deciding between different readings than the tools of philology, and every variant of the text must be considered as a unique case. This will be demonstrated in 33 variants of the text of Matthew's Gospel.
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2. Diese Wörter sind zum Verständnis nicht nötig. Ihre spätere Hinzu-
fügung ist also unwahrscheinlich.
3. avfh/te wird in aller Regel nicht absolut gebraucht.
Im Apparat von NA fehlen Ignatius, Gregor von Nyssa, Eusebius,
Basilius, Kyrill und Ephraem Syrus als Textzeugen des obigen Textes.
Mt 6, 12
avfi,emen / avfi,omen
Eine dieser beiden Formen ist der originale Text. Eine begründete
Entscheidung ist bei dem heutigen Kenntnisstand nicht möglich.
1. Der Aorist avfh,kamen ist eine der vielen puristischen Korrekturen
in der Tradition von a und B. Er ist eine Angleichung an die anderen
Verben des Gebets, die alle im Aorist stehen. Puristischen Korrektoren
ist häufig ein gewisses Maß an Dummheit eigen, wie sich auch hier zeigt:
Sie verkennen, dass die Aoriste alle an die 3. und die 2. Person gerichtete
Imperative sind, mit der Bedeutung ‚Jetzt und hier soll auf unsere Bitten
hin mit Deiner Hilfe…bei uns geschehen / Tu Du jetzt und hier auf unsere
Bitten hin…!’ Diese Aoriste des Imperativs sind also keine Tempora, we-
der im eingeschränkten Sinn des griechischen Indikativ Aorist noch gar
im Sinne lateinischer oder deutscher Tempora.
2. Mit avfi,emen dagegen werden zum ersten und einzigen Mal die Beter
selbst als Tätige ins Spiel gebracht, und das ist ein ganz anderer Fall! Vers
12b ist der einzige Fall einer anderen Person, der 1. Person Plural, in der
die Beter von ihrer eigenen Rolle sprechen; und es steht hier nicht zufäl-
lig das Präsens, also ein Tempus, das eine Handlung als einen Vorgang
darstellt, der ein Ziel anstrebt, aber nicht zum Ziel führen muss: „wie
auch wir versuchen wollen / uns daran machen, unsern Schuldigern zu
vergeben.“ Es geht um einen Gebrauch des Präsens, der mit dem höchst
unzulänglichen Terminus praesens de conatu bezeichnet wird. Das Prä-
sens ist der Sache nach das allein passende Tempus, weil der Aorist (1)
den Eindruck eines Geschäftes mit Gott erweckt (Do, ut des / ‚So wie
wir unseren Schuldigern vergeben haben – wir haben unsern Teil getan
-, vergib nun auch Du uns! Das bist Du uns schuldig!’) und (2) etwas als
schon geschehen hinstellt, das Menschen auch bei größter Anstrengung
nur unvollkommen erreichen können.
3. Hat es bei einer solchen textkritischen Entscheidung keinerlei Be-
deutung, dass in der parallelen Fassung desselben Stoffes, in Lk 11,4,
ohne Zweifel das Präsens steht?
4. Die Entscheidung des Committee ist wohl wieder einmal eine Ent-
scheidung für die „guten“ Handschriften.