Ulrich Victor, «Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums», Vol. 22 (2009) 55-90
In a contaminated manuscript tradition there is no such thing as a 'good' manuscript or a 'good' group of manuscripts. The right reading may be found anywhere in this tradition, even in the smallest parts. There is no other means of deciding between different readings than the tools of philology, and every variant of the text must be considered as a unique case. This will be demonstrated in 33 variants of the text of Matthew's Gospel.
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Es gibt nur eine einzige plausible Begründung der Existenz dieses
Textes: er ist der originale.
1. Niemand hätte diesen im Griechischen völlig ungewöhnlichen, je-
doch nicht grammatikalisch falschen Text erfinden können als der Autor
selbst, der unter den Autoren des NT der schlechteste Stilist ist. Als eine
Textänderung eines Kopisten ist er unwahrscheinlich, weil Kopisten mit
ihren Änderungen auf glatte Texte zielen.
2. Wäre dieser Text nicht das Original, sondern eine spätere Textände-
rung, hätte er sich eben wegen seiner Ungewöhnlichkeit (siehe unten, Nr.
5) nicht so weit verbreitet (a C L W 073. 0106 f1 33 (lat) syh mae 1424
etc.). Andererseits war er nicht so befremdlich oder gar unverständlich,
dass ihn Origenes und Johannes Chrysostomus für unzitierbar gehalten
hätten (Beide Autoren müssten als Zeugen dieser Lesart genannt werden;
sie fehlen im Apparat von NA).
3. Der Anstoß, den der Text bot, wird aus der varia lectio von D
deutlich: eivj me,son. Der Korrektor wollte das in dieser Bedeutung („Das
Schiff war schon mitten auf dem Meer“) einzigartige und befremdliche
Prädikatsnomen me,son vermeiden. So erklärt sich auch die Entstehung der
Varianten von (700) syc.p einerseits, von B f 13 etc. andererseits. Besonders
die Tradition von B ist durch Korrekturen nach dem Maßstab vermeint-
licher grammatikalischer und sachlicher Korrektheit gekennzeichnet
(vgl. z.B. 22,10, wo ga,moj in a B etc. durch numfw,n ersetzt ist, weil den
Korrektoren das Verbum ‚füllen’ nur zu einem Raum zu passen schien).
4. Es ist ganz offensichtlich, dass weder Mk 6,47 noch Joh 6,19 die
Vorlage der Lesart von B f13 pc sa (bo) noch der von D etc. waren, sie un-
terscheiden sich viel zu sehr. Aus der Lesart von B etc. kann andererseits
auch nicht der obige Text mit me,son entstanden sein (gegen Metzger), son-
dern der Text von B etc. ist ein selbständiger Versuch, den Text h=n me,son
th/j qala,sshj zu vermeiden und einen stilistisch besseren zu schaffen.
5. Grammatikalisch ist der Text vertretbar, vgl. Platon, Polit. 303a e`n` o.j
kai. plh,qouj to. ovli,gon me,son‚ ,von Einem und einer Menge ist das Wenige
ein mittleres’. Aber dieses Platon-Zitat zeigt auch den semantischen Un-
terschied zum ungewöhnlichen Gebrauch von me,soj an dieser Stelle: me,soj
bezeichnet im Griechischen etwas, das eine mittlere von zwei oder mehr
Größen ist oder das Zentrum von etwas, und zwar im Verhältnis zu den
Rändern, nicht aber z.B. einen Menschen, der sich mitten im Wald (wohl
aber einen Menschen in der Mitte zwischen zwei anderen), ebenso wenig,
wie hier, ein Schiff, das sich mitten auf dem See befindet (wohl aber ein
Schiff in der Mitte zwischen zwei anderen). Andererseits ist diese Aus-
drucksweise bei aller Ungewöhnlichkeit gut verständlich (siehe oben, Nr.
2). Es lässt sich nur vermuten, wie der Verfasser zu dieser Ausdrucksweise
kam; vielleicht am ehesten über Ausdrücke der Zeitangabe, z.B. Plutarch,