Ulrich Victor, «Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums», Vol. 22 (2009) 55-90
In a contaminated manuscript tradition there is no such thing as a 'good' manuscript or a 'good' group of manuscripts. The right reading may be found anywhere in this tradition, even in the smallest parts. There is no other means of deciding between different readings than the tools of philology, and every variant of the text must be considered as a unique case. This will be demonstrated in 33 variants of the text of Matthew's Gospel.
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wem könnte eine solche Tradition stammen? Wie und warum hätte je-
mand einen Text so hoher Qualität, ohne weitere Spuren zu hinterlassen,
hier einfügen wollen? Eine solche Annahme ist das Ergebnis einer sehr
unrealistischen Vorstellung von der Entstehung und Bearbeitung der
Evangelien.
2. Die Verse 2-3 sind eine glänzende Vorbereitung von V. 4, eine
Argumentation vom Kleinen zum Großen, also ein locus a minore ad
maius. Die Evangelien zeigen außerdem, dass eben diese Stilfigur ein
eigentümlicher Zug der Rhetorik Jesu ist (z. B. Mt 6,25-34; 10,29-31 mit
den Parallelen).
3. Wenn diese Verse nicht zum ursprünglichen Text gehörten, wäre
kein Anlass gewesen, sie nachzutragen. Ein Zusatz erfordert eine mehr
oder weniger große intellektuelle Leistung – und in diesem Fall wäre sie
sehr groß gewesen –, eine Auslassung nicht. Zahn schreibt in seinem
Kommentar (obwohl er diese Verse für eine spätere Zutat hält) zurecht,
dass der Text mit den Versen 2 und 3 „sinnvoll und unanstößig“ ist; er
müsse vielmehr „aus einer guten alten Quelle“ gekommen sein29. Etwas
später schreibt er: “Das Wort an sich ist treffend und glaubwürdig, und
auch seine Einfügung an dieser Stelle nicht unpassend“30.
4. Bei Lukas (12,54-56) steht nur Ähnliches und in anderem Zusam-
menhang. Die Ähnlichkeit besteht darin, dass in beiden Fällen von der
Fähigkeit die Rede ist, Vorzeichen des kommenden Wetters zu erkennen,
und von der Unfähigkeit, sich selbst zu erkennen. Die Vorzeichen sind
jedoch in beiden Texten ganz verschieden. Warum diese Worte aus Lukas
oder gar aus einer ihm ähnlichen Quelle (Metzger) entnommen sein sol-
len, ist unerfindlich. Lukas bestätigt auf das schönste, dass Jesus solche
Vergleiche gebrauchte.
5. Die Annahme eines frühen Schreiberversehens – und die Zahl der
Möglichkeiten, Fehler zu machen, ist unendlich – liegt angesichts der un-
bezweifelbaren hohen Qualität des längeren Textes näher als die Annah-
me eines späteren Zusatzes. Die Fragen, die zu beantworten sind, wenn
man diesen längeren Text für einen späteren Zusatz hält, lauten hier und
an anderen Stellen: Wer war dieser kongeniale Interpolator? Was hat ihn
veranlasst, den Text zu erweitern? Warum hinterließ uns ein Interpolator
von solchen literarischen Fähigkeiten keine weiteren identifizierbaren
Spuren? - Vielleicht liegt auch eine bewusste Tilgung vor, weil z.B. ein
roter Himmel in Ägypten keinen Regen ankündigt (Metzger).
6. Die Infragestellung dieses Textes wird begründet wie so oft: „The
external evidence is impressive…“ Ich verweise auf die Einleitung. Im
29
Hier stellt sich die Frage, wie man „die gute alte Quelle“ vom Original unterscheidet.
30
Th. Zahn, Matthäus 530.