Ulrich Victor, «Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums», Vol. 22 (2009) 55-90
In a contaminated manuscript tradition there is no such thing as a 'good' manuscript or a 'good' group of manuscripts. The right reading may be found anywhere in this tradition, even in the smallest parts. There is no other means of deciding between different readings than the tools of philology, and every variant of the text must be considered as a unique case. This will be demonstrated in 33 variants of the text of Matthew's Gospel.
Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums 71
1. Bei Lukas (5,32) und in Teilen der Überlieferung, sowohl des Mat-
thäus als auch des Markus (2,17), findet sich eivj meta,noian, so dass die
Annahme plausibel ist, dass diese beiden Wörter zum gemeinsamen Stoff
der Synoptiker gehören.
2. Bei Matthäus lässt sich der Textverlust in Teilen der Überlieferung
durch Homoioteleuton (qusi,an] meta,noian) erklären, ebenso bei Markus
(meta,noian] h=san).
3. Alle Kirchenväter, die diesen Text zitieren, zitieren die längere
Form. Das ist nur allzu verständlich, weil es nicht um ein bloßes Rufen
geht, sondern um ein Rufen zur Umkehr. Das Rufen allein wäre im Fall
der ‚Sünder’ unzureichend - und stilistisch sehr blass -, während im Fall
der ‚Gerechten’ nichts dagegen spräche. eivj meta,noian gehört also zum
vollen Verständnis hinzu, weil nur durch diese beiden Wörter der Gegen-
satz zwischen den ‚Gerechten’ und den ‚Sündern’ Gewicht gewinnt und
weil der Ruf zur Umkehr die Medizin Jesu ist, der sich in dem jeweils
vorangehenden Vers ja mit dem Arzt vergleicht. Erst durch diesen Ruf
zur Umkehr wird die besondere Aufgabe Jesu im Unterschied zur Tätig-
keit des Arztes prägnant bezeichnet.
4. eivj meta,noian ist Teil der festgeprägten Form dieser Sätze, deren
identischer Wortlaut bei allen drei Synoptikern25 die Annahme nahe legt,
dass sie eine genaue Wiedergabe von Sätzen Jesu sind: (12) Ouv crei,an
e;cousin oi` ivscu,ontej ivatrou/( avllV oi` kakw/j e;contejÅ poreuqe,ntej de. ma,qete
ti, evstin( :Eleoj qe,lw( kai. ouv qusi,an\ (13) ouv ga.r h=lqon kale,sai dikai,ouj(
avlla. a`martwlou.j eivj meta,noian)
25
Wenn man von der Partikel ga,r absieht, die hier zu vernachlässigen ist, stimmen
die Synoptiker wörtlich überein. Das ist umso erstaunlicher, als bei Matthäus das bei den
beiden anderen Synoptikern Zusammenstehende, durch eingeschobene Stücke voneinander
getrennt ist, also seine Form sogar über einen solchen Einschub hinweg genau bewahrte.
– Im Text von NA steht Lk 5,32 anstelle von h=lqon das Perfekt evlh,luqa (Die Varianten
zu dieser Stelle sind in NA nicht verzeichnet, s. Aland, Synopse u. Tischendorf ed. oct.),
das mit Sicherheit eine Korrektur des originalen Textes ist. Nirgendwo in der griechischen
Literatur steht der Infinitiv des Zweckes nach einem Perfekt. Bedingung dieses Infinitivs
ist ein vorausgehendes Verbum der Bewegung (s.a. BDR 388,1; 399,1). Das Perfekt ist per
definitionem die Aufhebung der Bewegung, kann also keinen Infinitiv des Zweckes nach
sich ziehen. Die Ersetzung des Aorists durch das Perfekt läßt sich in Handschriften des NT
oft beobachten: Mk 1, 38; 3,26; 12,43; 11,2; Lk 4,43; 7,20, 24; 9,7; 25,26; ausschließlich B
in Lk 24,28 (nicht in NA, s. Tischendorf ed. oct.); ausschließlich a in Lk 9,1; Mt 13,25; Joh
17,1 (alle nicht in NA, s. Tischendorf ed. oct.). Es ist eine häufig zu beobachtende Tendenz,
auch in der Überlieferung klassischer Autoren, z.B. bei Lukian. B. Weiss (Textkritik der
vier Evangelien (Leipzig 1899) 63 stellt bei den Schreibern und Korrektoren des NT eine
Vorliebe für das Perfekt fest, „das sie wohl für eine Verfeinerung halten.“ Im Text von NA
und im Apparat von Aland, Synopsis, ist dieser Sachverhalt verkannt. Auch Lk 8,46 ist in
NA zu Unrecht das Perfekt dem Aorist vorgezogen (s. meinen „Textkritischen Kommentar“
zur Stelle; siehe Anm. 1).