Ulrich Victor, «Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums», Vol. 22 (2009) 55-90
In a contaminated manuscript tradition there is no such thing as a 'good' manuscript or a 'good' group of manuscripts. The right reading may be found anywhere in this tradition, even in the smallest parts. There is no other means of deciding between different readings than the tools of philology, and every variant of the text must be considered as a unique case. This will be demonstrated in 33 variants of the text of Matthew's Gospel.
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des höchst seltenen katabibasqh,sh (kaum mehr als zehn Formen dieses
Futurs in der gesamten griechischen Literatur) durch das sehr viel häu-
figere katabh,sh (mehr als 300 mal) ist die wahrscheinlichere Annahme.
Die übrigen textkritischen Fragen dieses Verses sind besprochen in
meinem „Textkritischen Kommentar zu ausgewählten Stellen des Lukas-
und des Johannesevangeliums“ unter Lk 10,15 (siehe Anm. 1).
Mt 12, 2
)))ivdo,ntej auvtou.j ei=pan)))
1. Der Ausfall von auvtou,j in einem Teil der Überlieferung ist sowohl
als Haplographie wie auch als puristische Korrektur zur Vermeidung der
Doppelung auvtou,j / auvtw|/ zu erklären. Puristische Korrekturen dieser Art
sind zumal in der Tradition der „guten“ Handschriften a und B in Fülle
zu finden.
2. Wenn das Partizip ivdw,n ein direktes Objekt hat, wird es von Mat-
thäus immer gesetzt (2,10; 3,7; 5,1; 5,16; 8,18; 8,34; 9,2; 9,22; 9,23; 9,36;
14,26; 16,28; 18,31; 21,15; 21,19; 21,38; 27,54; 28,17). Nur scheinbare
Ausnahmen sind 2,16; 27,3; 27,24; 27,49: Dort folgen dem Partizip Ob-
jektsätze.
Von dieser Regel ausgenommen sind die Fälle, in denen das Objekt
ein Geschehen oder ein Sachverhalt ist, also dort wo man im Deutschen
sagen würde: ‚Als sie das sahen…’ In diesen Fällen steht bei Matthäus kein
Pronomen (9,8; 9,11; 12,2; 21,20; 21,32; 26,8). Das könnte auch der Fall
von 12,2 sein, das Geschehen des Rupfens der Ähren. Ebenso gut aber
können die Jünger das Objekt sein, und Vers 2b verweist ausdrücklich auf
die Personen, die dies tun. Der Zusammenhang erlaubt also sowohl das
Verständnis „Als die Pharisäer sie sahen…“ als auch „Als die Pharisäer
das sahen…“
Es kommt etwas weiteres hinzu: Anders als hier, 12,2, gibt es an kei-
ner der genannten Stellen, wo ein Geschehen oder Sachverhalt das Objekt
ist, variae lectiones mit einem Objekt der Personen, obwohl es auch dort,
wie hier in 12,2, in allen Fällen möglich gewesen wäre, die am Geschehen
beteiligten Personen mit einem Pronomen zu nennen.
Es gibt also sehr gute Gründe, auvtou,j für den originalen Text zu halten.
Ich habe diese inhaltlich unwichtige Stelle exemplarisch so ausführlich
behandelt: Wenn man dem Originaltext näher kommen will, wird man
in dieser mühseligen Weise den Sprachgebrauch der Autoren des NT
untersuchen müssen, statt nach vermeintlich „guten“ Handschriften zu
entscheiden.