Christoph Berner, «Gab es einen vorpriesterlichen Meerwunderbericht?», Vol. 95 (2014) 1-25
This article challenges the widespread belief that the miracle at the Sea is a cornerstone of the Exodus tradition and an essential part of the pre-priestly Exodus narrative. An analysis of the prose account in Exodus 14 suggests that its non-priestly portions are actually post-priestly and belong to a late Dtr reworking of the text. The Dtr editor stresses that YHWH takes an active part in the defeat of the Egyptians during Israel's crossing of the sea, and thus establishes the thematic focus which characterizes the reception history of this tradition throughout the Hebrew Bible.
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Wolken- und Feuersäule bereits in Kenntnis der (sekundär) pries-
terlichen Vorstellung entwickelt worden sein, dass die Wolke das
Zeichen zum Aufbruch bzw. zum Aufschlagen des Lagers gibt,
indem sie sich von der Stiftshütte erhebt bzw. wieder auf ihr nie-
derlässt (Ex 40,35-36; Num 9,15a.17-22; 10,11-12[34] 43. Es ist
aber ebenfalls möglich, dass das literarische Gefälle umgekehrt ver-
laufen ist. Jedenfalls die Erwähnungen des nächtlichen Feuer-
scheins der Wolke in Ex 40,38; Num 9,15b.16 sind mit hoher
Wahrscheinlichkeit als spätpriesterliche Reaktion auf die spätdtr
Wolken- und Feuersäule zu betrachten.
Zusätzlich zu dem genannten konzeptionellen Aspekt gibt es eine
Reihe von Indizien, die darauf hindeuten, dass der nichtpriesterliche
Bestand von Exodus 14 auf die P-Version des Meerwunderberichts
bezogen ist. So klafft bereits zu Beginn der Erzählsequenz eine deut-
liche Lücke 44, denn zwischen der Mobilmachung der ägyptischen
Truppen (14,6) und der Wahrnehmung der Verfolger durch die Israe-
liten (14,10bα) wird weder von einer Verfolgung berichtet noch er-
wähnt, dass sich die folgenden Ereignisse, wie in 14,21aα2β.27aα2βb
vorausgesetzt, am Meer zutragen. Beide Informationen liefert allein
der priesterliche Bericht (14,2a.4.8a), was dafür spricht, dass dieser
nicht nur bekannt, sondern als Vorlage vorausgesetzt ist, die um den
nichtpriesterlichen Text erweitert wurde.
In dieselbe Richtung deutet ferner, dass auch die genaue Position
der Israeliten und der Ägypter bei einer isolierten Betrachtung des
nichtpriesterlichen Textes unklar bleibt. Das verbreitete Bild, dem-
zufolge beide Gruppen ihr Lager am Ufer des Meeres aufgeschla-
gen haben, das sie die gesamte Nacht über nicht verlassen, lässt
sich am Text nicht erhärten. Die Erwähnung des israelitischen La-
gers in 14,9aα ist eine Wiederaufnahme von 14,8aβ P, die den
Rückblick auf die Zuversicht der Israeliten beim Auszug (14,8b)
in den Erzählkontext einbindet und mithin für einen selbstständigen
nichtpriesterlichen Text ausfällt 45. Ein Hinweis darauf, dass die
43
Zum literarischen Horizont der genannten Stellen vgl. grundlegend D.
KELLERMANN, Die Priesterschrift von Numeri 11 bis 10 10 (BZAW 120; Berlin
1970) 133-140; R. ACHENBACH, Die Vollendung der Tora (BZAR 3; Wiesba-
den 2003) 550-556.
44
Vgl. SCHMITT, “Geschichtsverständnisâ€, 209.
45
Vgl. ausführlich BERNER, Exoduserzählung, 366-371.