Michael Sommer, «Die literarische Konzeption von räumlicher und zeitlicher Wahrnehmung in der Johannesoffenbarung.», Vol. 96 (2015) 565-585
This article proposes that the Book of Revelation does not have a single concept of space and time. In contrast, John lets his first person narrator experience different modes of time and space, and his temporal and spatial perceptions begin to change caused by God's action in history. Thereby, John wants to highlight God's power over his creation in order to criticize and to polemicize the Roman imperial cult and its particular understanding of time.
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Die literarische Konzeption von räumlicher und zeitlicher
Wahrnehmung in der Johannesoffenbarung
I. Einleitung — Politik, Identität und Wahrnehmung
An Gedanken über Zeit und Zeitlichkeit, Raum und Räumlichkeit
in der Johannesoffenbarung mangelt es nicht 1. Gerade in jüngster
Zeit erschien eine ganze Bandbreite an Artikeln, die sich den
Phänomenen des literarischen Raumes und der Zeit sowie ihrem
politischen Beigeschmack widmeten. Dabei hatten Ausleger weit mehr
im Sinn als Zeitgeschichte. Viele haben wahrgenommen, inwiefern
die literarische Plastik eines Raumes und die komplexe Realgeschichte
Kleinasiens in der Offenbarung miteinander verstrickt sind, ja sogar
in einer Wechselwirkung zueinander stehen. Verschiedene Arbeiten
zur Ekphrasis zeigten, dass Johannes seinen Leser Bilder schauen
lies, die die opulente Optik der Reichspropanda in der Provinz
parodierten. Mittels Gegenbilder zu den Kulissen des munizipalen
Kultes in der Zeit Domitians und/oder Trajans äußerte der Seher
schärfste politisch-kulturelle Kritik 2. Darüber hinaus sensibilisierten
1
Einen sehr ausführlichen Überblick über die Vorstellung von “Zukunft”
und “Endzeit” bietet J. FREY, “Was erwartet die Johannesapokalypse? Zur
Eschatologie des letzten Buchs der Bibel”, Die Johannesapokalypse. Kontexte
– Konzepte – Rezeption (eds. J. FREY – J.A. KELHOFFER – F. TÓTH) (WUNT
I. 287; Tübingen 2012) 473-552.
2
A. Weißenrieder erkannte z.B. korrekt, dass Johannes literarische Räumlich-
keit einer erzählten Fiktion mit Eindrücken des römisch-hellenistisch Kulturraums
vernetze, einem Leser anschaulich präsentierte, um bei diesem ein kritisches
Bewusstsein für seine Umwelt zu schärfen. Dadurch trugen sie (natürlich
neben anderen) Entscheidendes dazu bei, die Johannesoffenbarung nicht nur
als ein Textmosaik aus verschiedenen Anspielungen auf die Schriften Israels
zu lesen, sondern Johannes als ein jüdisch denkendes Individuum des römisch-
hellenistischen Kleinasiens wahrzunehmen. Ferner auch M. KARRER, “Apoll
und die apokalyptischen Reiter”, Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre
Auslegung (eds. M. LABAHN – M. KARRER) (Arbeiten zur Bibel und ihrer
Geschichte 38; Leipzig 2012) 223-251. M. KARRER, “Hellenistische und früh-
kaiserzeitliche Motive in der Johannesapokalypse”, Die Offenbarung des Johannes.
Kommunikation im Konflikt (eds. T. SCHMELLER – M. EBNER – R. HOPPE)
(QD 253; Freiburg i. Br. 2013) 32-73.
BIBLICA 96.4 (2015) 565-585