Michael Sommer, «Die literarische Konzeption von räumlicher und zeitlicher Wahrnehmung in der Johannesoffenbarung.», Vol. 96 (2015) 565-585
This article proposes that the Book of Revelation does not have a single concept of space and time. In contrast, John lets his first person narrator experience different modes of time and space, and his temporal and spatial perceptions begin to change caused by God's action in history. Thereby, John wants to highlight God's power over his creation in order to criticize and to polemicize the Roman imperial cult and its particular understanding of time.
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Blick darauf werfen, welche Ebenen von Zeit und Zeitwahrneh-
mung sich in einem literarischen Werk überhaupt begegnen können,
um vor diesem Hintergrund zu zeigen, wie sich in der Johannesoffen-
barung synchrone und diachrone Momente von Zeitstrukturen die
Hand geben. Daraufhin frage ich (natürlich methodisch vorsichtig)
nach politischen Faktoren, die das Zeitempfinden des Autors geprägt
haben könnten und ob sich davon Spuren im Text finden lassen.
Anschließend versuche ich zu erläutern, wie sich in der erzählten
Welt die Zeitwahrnehmung des Ich-Erzählers dadurch änderte, dass
sich Gottes Verhältnis zum Raum neu definierte. Das ist wiederum
innerhalb der räumlichen Wahrnehmung des Ich-Erzählers zu erkennen.
Im Hintergrund dieser Schritte steht die Vermutung, dass der Autor
Johannes mit der synchronen Zeit- wahrnehmung des Ich-Erzählers
politische Kritik üben wollte. In einem letzten Schritt soll zudem
noch die Raumwahrnehmung des Ich-Erzählers betrachtet werden.
Ich möchte hier betonen, inwiefern Raum- und Zeitwahrnehmungen
sich gegenseitig bedingen und sich räumliche Sinneseindrücke des
Ich-Erzählers immer dann ändern, wenn sich sein Zeitempfinden
neu ausrichtet.
II. Was ist Zeit? — Literarische Zeitwahrnehmung
in der Offenbarung
Zeit ist bekanntlich relativ und Zeitwahrnehmung ein absolut
subjektives Geschehen. Sie wird von Subjekt zu Subjekt unterschied-
lich (passiv) empfunden, erlebt, bzw. (aktiv) gestaltet. Jedes Subjekt
hat zudem innerhalb seiner eigenen Biographie ständig Brüche seiner
Zeitwahrnehmung. Zeit ist also niemals identisch. Sie ist immateriell
und letztendlich nur indirekt wahrzunehmen, insofern sie sich an
der Bewegung, an Fortschritt oder Stillstand, von materiellen oder
kommunikativen Beziehungen abzeichnet. Genau dieser Punkt ist
für den literarischen Zeitbegriff ausschlaggebend. Da Zeit unkörperlich
ist, ist sie nur schwer beschreibbar. Sie lässt sich von daher nur lite-
rarisch relational darlegen. Entweder in Form von Handlungszu-
sammenhängen, an deren Progression ein Leser Zeitspannen und
-räume der erzählten Welt erschließen kann, oder in Form von
Kommunikationssituationen, in denen dem Leser etwas direkt oder
indirekt über die Zeitstruktur der literarischen Kulisse erzählt wird.
Natürlich steht der grammatikalische Tempusgebrauch auch damit