Michael Sommer, «Die literarische Konzeption von räumlicher und zeitlicher Wahrnehmung in der Johannesoffenbarung.», Vol. 96 (2015) 565-585
This article proposes that the Book of Revelation does not have a single concept of space and time. In contrast, John lets his first person narrator experience different modes of time and space, and his temporal and spatial perceptions begin to change caused by God's action in history. Thereby, John wants to highlight God's power over his creation in order to criticize and to polemicize the Roman imperial cult and its particular understanding of time.
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577 DIE LITERARISCHE KONZEPTION 577
Erzählwelt beteiligt ist. Gelinde gesagt führt der Text den Leser ab
Offb 6,12 in ein anderes Verhältnis zur räumlichen Wahrnehmung
des Ich-Erzählers. Besser gesagt tritt der Ich-Erzähler in den Posau-
nen- und Schalenvisionen in eine größere Distanz zum Leser. Im
Text finden sich innerhalb der Visionszyklen ab Offb 6,12 deutlich
weniger Aussagen in der 1. Person Singular als in den ersten fünf
Siegelvisionen. Der Text vermeidet es, ein beschriebenes Bild direkt
als ein wahrgenommenes Phänomen von Johannes erscheinen zu
lassen. Kai. ei=don, das bis zur Märtyrerfrage die gesamte erzählte
Welt als eine von Johannes geschaute Szenerie offenbart (4,1;
5,1.2.6.11; 6,1.9), verschwindet ab dem Tag des Herrn in Offb 8,6 –
9,21; 11,15-19 und 16,1-21 nahezu komplett. Stattdessen werden
alle Visionen der drei Zyklen ab Offb 6,12 mittels Verbalhandlun-
gen in der 3. Person konstruiert 27. Die Ich-Erzählung von Offb 4,1 –
6,11 wird also ab diesem Punkt zu einer Erzählung in der 3. Person,
bei der dem Leser zwar immer noch plastische Eindrücke vom Ich-
Erzähler präsentiert werden. Allerdings nimmt sein Anteil an der
erzählten Welt deutlich ab. Stattdessen diente dem Autor das Hilfsverb
gi,nomai in der 3. Person Sg. Aorist als ein Leitwort, das nur innerhalb
von 6,12-16,21 erscheint. Nur in diesem Textbereich gestaltete der
Text Szenen mit Hilfe der grammatikalischen Konstruktion kai.
evge,neto + Leitmotiv (Offb 6,12; 8,1.5.7.8.11; 11,13.15.19; 12,7.10;
16,2.3.4.10.17.18.19). Dies beschwört in Offb 6,12-16,21 den Effekt
einer Zeitraffung herauf. Zeit wird also mittels Verbalhandlungen
ab dem Tag des Herrn anders definiert als es bis zur Märtyrerfrage
der Fall war:
1. Durch kai. evge,neto + Leitmotiv wird die Erzählung nicht nur
insgesamt lebendiger, sie macht sie erzähltechnisch gesehen auch
wesentlich schneller, und das in zweierlei Hinsicht. Zum einen tritt
der Ich-Erzähler in den Visionszyklen ab der Tag des Herrn-Szene
(v.a. in Offenbarung 8–9 und Offenbarung 16) von den Interludien ab-
gesehen in den Hintergrund. Einzelne Handlungen, Ereignisse oder
27
Vgl. dazu M. SOMMER, Der Tag der Plagen. Studien zur Verbindung
der Rezeption von Ex 7–11 in den Posaunen- und Schalenvisionen der Jo-
hannesoffenbarung und der Tag des Herrn-Tradition (WUNT II. 387; Tübin-
gen 2015). Ferner M. SOMMER, “Pech und Schwefel. Das Motivfeld Sodom
und der Tag YHWHs in der Offenbarung”, Poetik und Intertextualität der Jo-
hannesapokalypse (eds. S. ALKIER – T. HIEKE – T. NICKLAS in Zusammenar-
beit mit M. SOMMER) (WUNT I. 346; Tübingen 2015) 319-342.