Ulrich Victor, «Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums», Vol. 22 (2009) 55-90
In a contaminated manuscript tradition there is no such thing as a 'good' manuscript or a 'good' group of manuscripts. The right reading may be found anywhere in this tradition, even in the smallest parts. There is no other means of deciding between different readings than the tools of philology, and every variant of the text must be considered as a unique case. This will be demonstrated in 33 variants of the text of Matthew's Gospel.
Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums 57
Ebenso wenig verständlich ist es, wie sich solche Einschätzungen der
Qualität von Handschriftengruppen mit der Tatsache vereinbaren lassen,
dass in anderen Fällen, nicht nur in der Theorie, sondern auch in der
Praxis des Textes z.B. von Nestle / Aland, die Lesart von sehr wenigen
Handschriften, manchmal nur einer einzigen Handschrift als original
eingeschätzt wird, dass man also in einigen Fällen nach der Qualität
der Lesart und überraschender Weise eben nicht mehr nach der Qualität
der Handschrift(engruppe) entscheidet. In Apostelgeschichte 6,12 z.B.
beruht der Text von NA auf nicht mehr als der provencalischen und der
althochdeutschen Übersetzung, in Lk 21,11 auf der singulären Lesart der
Handschrift B.
Wann ist der Punkt erreicht, an dem der Gesichtspunkt „Qualität
von Handschriften“ / „Qualität von Handschriftengruppen“ zugunsten
des Gesichtspunktes „Qualität der einzelnen Lesarten“ aufgegeben
wird? Nach welcher rätselhaften Regel entscheidet man sich zu solchem
‚Umschalten’? Dergleichen Fragen werden nirgendwo beantwortet. Man
muss selbst versuchen, eine Antwort zu finden, und wird dann aus dem
Kommentar von Metzger Folgendes als Quintessenz der Praxis der
Herausgeber des Neuen Testaments ziehen: ‚Wenn der Text der als gut
eingeschätzten Handschriften oder Handschriftengruppen oder der als
gut eingeschätzten Verbindungen bestimmter Handschriftengruppen
verständlich oder sinnvoll ist, wird er, auch gegen einen verständlicheren
oder sinnvolleren Text anderer Handschriften oder Handschriftengrup-
pen oder Verbindungen von Handschriftengruppen, bevorzugt. Nur
wenn der Text solcher guten Handschriften oder Handschriftengruppen
unsinnig, also in keiner Weise zu vertreten ist, zieht man den Text ande-
rer Handschriften in Erwägung’.
Es ist jedoch spätestens seit Paul Maass bekannt, dass es in einer
handschriftlichen Überlieferung keine‚guten’ oder ‚schlechten’ Hand-
schriften gibt (und selbstverständlich auch keine Gruppen von Hand-
schriften, die „slightly better“ oder „less impressive“ sind als andere),
sondern nur abhängige oder unabhängige Handschriften. Lässt sich die
Abhängigkeit oder Unabhängigkeit von Handschriften nicht mithilfe
einzelnen Varianten zu verdrängen drohe.“ Weitere kritische Bemerkungen finden sich in
dieser Arbeit von Zuntz 24 u. 36 Anm. 102.
Es kommt hinzu, dass diese ‘Textformen’ alles andere als klar umrissene Größen sind,
wie aus der simplen Tatsache zu ersehen ist, dass sie im Apparat der kritischen Ausgaben
nicht durch einheitliche Siglen bezeichnet werden können. Außerhalb der kritischen Appa-
rate wird aber immer wieder und immer noch dieser Eindruck erweckt, sie wären solche
klar umrissenen Größen – mit all den falschen Schlüssen, die daraus entstehen, z.B. dem,
dass diese ‚Textformen’ eine bestimmte geographische Herkunft hätten, mit der bei Metzger
immer wieder argumentiert wird.