Ulrich Victor, «Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums», Vol. 22 (2009) 55-90
In a contaminated manuscript tradition there is no such thing as a 'good' manuscript or a 'good' group of manuscripts. The right reading may be found anywhere in this tradition, even in the smallest parts. There is no other means of deciding between different readings than the tools of philology, and every variant of the text must be considered as a unique case. This will be demonstrated in 33 variants of the text of Matthew's Gospel.
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antwortlich waren? Wovon würden die Eltern einerseits und die Jünger
andererseits ihren Lebensunterhalt bestreiten? Wo würden sie schlafen?
Was sagten ihre Eltern und bisherigen Freunde zu ihrem Entschluß?
Sagte niemand: „Ihr seid ja verrückt“ (Markus 3,21)14?
Diesem Lakonismus des Berichts entspricht ein Lakonismus der
Sprache der Evangelien in ihrer Gesamtheit. Insbesondere spricht die
Beschaffenheit der längeren Texte gegen die Annahme von beliebig vielen
beliebig willkürlich in den Text eingreifenden Korrektoren oder Interpola-
toren, weil diese längeren Texte in aller Regel genau so lakonisch sind wie
ihre Umgebung. Wenn es, wie die Mehrzahl der Textkritiker annimmt, so
zahlreiche Interpolatoren gegeben hätte, wären Geschwätzigkeit und Fa-
buliersucht ihre Spuren, und solche Spuren sucht man in den Evangelien
vergeblich. Wenn z.B. ein Schreiber oder Korrektor sich in Mt 6,4 die
Freiheit genommen hätte, dem Text, „in order to make more explicit an
antithetical parallelism“ (Metzger), ein evn tw|/ fanerw|/ hinzuzufügen, wäre
dies mit Sicherheit kein Einzelfall geblieben; er hätte diesem Bedürfnis,
den Text in solcher Weise zu glätten, an vielen weiteren Stellen nachge-
geben. Andere hätten das gleiche getan. Mit anderen Worten: Wenn der
Damm der Pietät gegenüber den Texten einmal gebrochen wäre, hätte es
kein Halten mehr gegeben. Die Evangelien hätten einen ganz und gar an-
deren literarischen Charakter, als sie ihn ganz offensichtlich heute haben.
Schon bei der Untersuchung der drei anderen Evangelien15 hatte sich
in den allermeisten Fällen unterschiedlich umfangreicher Texte in den
verschiedenen Teilen der Überlieferung gezeigt, dass die längeren Texte in
der Regel mit großer Wahrscheinlichkeit die originalen sind16.
(2) Ein hypothetischer Korrektor oder Interpolator, der Texte aus den
anderen Evangelien entlehnte, hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit die
14
Solche Fragen lagen in der Antike genau so nahe wie heute. Hieronymus berichtet in
seinem Kommentar zu 9,9, dass Porphyrius und Kaiser Julian spöttisch gefragt hatten, wie
ein verständiger Mann seinen einträglichen Posten auf den Ruf eines Unbekannten hin habe
aufgeben können.
15
Siehe Anmerkung 1
16
Es sei hier wenigstens ein Beispiel der Leichtfertigkeit genannt, mit der seit mehr als
hundertzwanzig Jahren die Authentizität von Texten bestritten wird: Der Vers Lk 23,17
wird von Westcott / Hort, Tischendorf und Nestle / Aland in den Apparat verbannt, obwohl
es mehr als offensichtlich ist, dass ohne diesen Vers 17 der Sinnzusammenhang gestört ist:
Die Forderung, Barabbas statt Jesus freizulassen (Vers 18), ist ohne die Erklärung von Vers
17, dass der Statthalter verpflichtet war, zum Fest einen Gefangenen freizulassen, ganz
und gar unverständlich ist. Dieser Zusammenhang wurde, wie aus Metzgers Schweigen
zu schließen, von den Herausgebern von NA nicht einmal zur Kenntnis genommen. Man
scheint nur einzelne Verse ohne ihren Zusammenhang zu betrachten - Dazu, dass Metzgers
Einwände gegen den Vers nicht stichhaltig sind, siehe meinen „Textkritischen Kommentar“
zu Lukas (siehe Anm. 1). - Es gehört zu den vielen rühmenswerten Seiten der Ausgabe von
Bover / O’Callaghan, dass sie Vers 17 im Text behält.