Ulrich Victor, «Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums», Vol. 22 (2009) 55-90
In a contaminated manuscript tradition there is no such thing as a 'good' manuscript or a 'good' group of manuscripts. The right reading may be found anywhere in this tradition, even in the smallest parts. There is no other means of deciding between different readings than the tools of philology, and every variant of the text must be considered as a unique case. This will be demonstrated in 33 variants of the text of Matthew's Gospel.
Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums 65
Mt 5, 44 evgw. de. le,gw u`mi/n\ Lk 6,27 VAlla. u`mi/n le,gw toi/j
avgapa/te tou.j evcqrou.j u`mw/n( avkou,ousin\ avgapa/te tou.j evcqrou.j
euvlogei/te tou.j katarwme,nouj u`mw/n( kalw/j poiei/te toi/j misou/sin
u`ma/j( kalw/j poiei/te toi/j misou/ u`ma/j(
sin u`ma/j( kai. proseu,cesqe
u`pe.r tw/n evphreazo,ntwn u`ma/j
kai. diwko,ntwn u`ma/j(
Lk 6,28 euvlogei/te tou.j katarwme,nouj
u`ma/j( proseu,cesqe peri. tw/n
evphreazo,ntwn u`ma/jÅ
Der längere Text dürfte der originale sein. Die Annahme der Übernahme
des zusätzlichen Textes aus dem Lukasevangelium (Metzger) ist wie fast
immer sehr beliebig. Die Unterschiede sind erheblich (Konstruktionen,
Reihenfolge, Präpositionen): Bei Matthäus hat kalw/j poiw/ in Teilen
der Überlieferung (s. Tischendorf ed. oct.) den Akkusativ bei sich, bei
Lukas ohne Varianten den Dativ; bei Matthäus steht proseu,comai mit
u`p` e,r, bei Lukas mit (dem geläufigeren) peri,. Warum fehlt bei Matthäus
toi/j avkou,ousin? Woher hat Matthäus das über Lukas hinausgehende kai.
diwko,ntwn u`ma/j? Warum folgt er nicht der Reihenfolge der Glieder bei
Lukas? Welche Motive könnten einen Schreiber oder Korrektor geleitet
haben, wenn er Entlehnungen aus einem anderen Evangelium vorge-
nommen hätte? Vermutlich hätte er seinen Text vervollständigen wollen,
weil er den längeren für den vollständigeren hielt. Aber warum tat er das
dann hier nur zu einem Teil?
Die Textvarianten im Text des Matthäus lassen sich erklären: Es liegt
hier eine Aufzählung vor, die als Aufzählung in jeder Überlieferung
gefährdet ist; es kommt die Gefährdung hinzu, die sich aus den vielen
Homoioteleuta der ähnlichen Glieder dieser Aufzählung ergibt. Die vie-
len Varianten innerhalb der Stücke des längeren Textes lassen sich am
besten erklären, wenn man annimmt, dass der Ausfall von Gliedern der
Aufzählung hin und wieder bemerkt wurde und die ausgefallenen Stücke
dann am Rande mit mehr oder weniger großer Sorgfalt nachgetragen
und mit mehr oder weniger großer Sorgfalt in spätere Kopien des Textes
übernommen wurden.
Aus den oben genannten Unterschieden der Textgestalt ist am ehesten
zu schließen, dass der synoptische Stoff Matthäus und Lukas in jeweils
unterschiedlicher Form vorlag.
Einiges Grundsätzliche zur Frage der Entlehnung aus den ande-
ren synoptischen Evangelien siehe zu Markus 1,39; 3,15; 14,65 (siehe
Anm.1).