Ulrich Victor, «Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums», Vol. 22 (2009) 55-90
In a contaminated manuscript tradition there is no such thing as a 'good' manuscript or a 'good' group of manuscripts. The right reading may be found anywhere in this tradition, even in the smallest parts. There is no other means of deciding between different readings than the tools of philology, and every variant of the text must be considered as a unique case. This will be demonstrated in 33 variants of the text of Matthew's Gospel.
Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums 63
Mt 4, 23
Kai. perih/gen o[lhn th.n Galilai,an
Dieser Text ist der originale:
1. Es ist der Sprachgebrauch des Matthäus, peria,gw mit dem Akkusa-
tiv zu verbinden (9,35; 23,15).
2. Die Textänderung zu evn o[lh| th/| Galilai,a| ist eine der vielen pu-
ristischen Korrekturen in der Tradition der „guten“ Handschriften a
und B: Der höchst seltene und späte intransitive Gebrauch des Verbums
im Sinne eines unbestimmten ‚herumgehen’ schien mit einer präpositi-
onalen Ergänzung erträglicher als mit dem Akkusativ. In klassischem
transitiven Gebrauch heißt das Verb u. a. ‚im Kreis herumführen’, d.h. so
‚herumführen’, dass man an seinem Ausgangspunkt wieder ankommt;
der Akkusativ bezeichnet bei diesem transitiv gebrauchten Verb den Ort,
um den man jemanden im Kreis herumführt (Demosthenes 42,5 „ich
führte sie um das…an der Grenze gelegene Gut herum periagagw.n)))th.n
evscatia,n“; Herodot 4,180 „sie führen das…Mädchen…um den See herum
peria,gousin)))th.n li,mnhn“; s. BDR 3081), wie es die Bedeutung der Präpo-
sition peri, c. accus. ist. Die semantische Entwicklung geht also von einem
transitiven ‚in einem Kreis um etwas herumführen’ zu einem weniger
genau bestimmten intransitiven ‚herumgehen in etwas’, ‚hindurchziehen
durch etwas’ in neutestamentlicher Zeit. Eben diesen Akkusativ, welcher
der Regelfall der mit peri, zusammengesetzten transitiven Komposita ist
(KG I 452), wollten die pedantischen Korrektoren vermeiden, weil der Ge-
brauch des Verbs bei Matthäus keine Bewegung im Kreis mehr beinhaltet;
sie ersetzten den Akkusativ durch eine präpositionale Bestimmung, die
ihnen besser zu der neuen Bedeutung zu passen schien.
Die Annahme, dass der völlig unanstößige, glatte Text evn o[lh| th/|
Galilai,a| der ursprüngliche ist, der in den schwierigeren Akkusativ o[lhn
th.n Galilai,an verwandelt wurde (siehe außerdem Nr.1), ist unwahr-
scheinlich.
3. In der Parallelstelle Markus 6,6 steht ebenfalls der Akkusativ, so
dass zu vermuten ist, dass der Akkusativ schon in der synoptischen Vor-
lage zu finden war.
Mt 5, 22
o`` ovrgizo,menoj tw/| avdelfw|/ auvtou/ eivkh|/
Dieser Text ist mit hoher Wahrscheinlichkeit der originale:
1. Der Ausfall des eivkh/| lässt sich zum einen (a) als Haplographie vor
dem zweimaligen ei;ph| im selben Vers erklären; zum andern (b) könnte