Ulrich Victor, «Textkritischer Kommentar zu ausgewählten Stellen des Matthäusevangeliums», Vol. 22 (2009) 55-90
In a contaminated manuscript tradition there is no such thing as a 'good' manuscript or a 'good' group of manuscripts. The right reading may be found anywhere in this tradition, even in the smallest parts. There is no other means of deciding between different readings than the tools of philology, and every variant of the text must be considered as a unique case. This will be demonstrated in 33 variants of the text of Matthew's Gospel.
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des NT dem oft zu. In der Praxis wird jedoch z.B. die Tradition von D seit
Westcott und Hort in aller Regel missachtet. Eberhard Nestle wehrte sich
schon vor hundert Jahren erfolglos dagegen17. Es läßt sich seine Ansicht
begründen, dass z.B. Mt 6,8 und 26,73 die Handschrift D (und wenige
andere der ‚westlichen’ Tradition) den allein richtigen Text überliefert.
In der großen Mehrheit der Fälle sind textkritische Entscheidungen im
eigentlichen Sinn gar nicht möglich, sondern es geht darum, Verfahrens-
weisen zu finden, damit wenigstens in vergleichbaren Fällen vergleichba-
re einheitliche Entscheidungen gefällt werden, wie exemplarisch zu 10,42
dargelegt ist.
Mehr oder weniger – je nach den Möglichkeiten, den Sprachgebrauch
zu ermitteln – gehören auch 8,18; 12,2; 26,8; 26,27 hierher. Selbst wenn
der Sprachgebrauch der Autoren des NT genauer untersucht sein wird,
als es bisher geschehen ist, bleibt eine Vielzahl solcher Fälle.
Die Auswahl der im Folgenden behandelten Stellen ist in der Absicht
getroffen, möglichst viele verschiedenartige Fälle exemplarisch zu behan-
deln. Dazu war es nötig, sich auf solche Fälle zu beschränken, in denen
man sich mit genügend starken Argumenten für eine bestimmte Lesart
entscheiden kann. Man sollte sich keine Illusionen darüber machen, in
wie vielen Fällen solche Sicherheit nicht gegeben ist. Diese Fälle werden
das Problem zukünftiger Ausgaben des NT sein, weniger die hier behan-
delten.
Mt 4, 5
i[sthsin
Die Lesart e;sthsen entspricht nicht dem griechischen Tempusgebrauch
und ist ein Hör- oder Schreibfehler. Es kann hier nur das Präsens stehen,
das eine Folgehandlung des paralamba,nei anzeigt. Eine genaue Parallele
zu dem Tempusgebrauch von V. 5 ist V. 8 (paralamba,nei / dei,knusi).
Der Aorist würde eine völlig neue Handlung bedeuten wie z.B. in V.
11, wo der Aorist anzeigt, dass eine neue Szene mit neuem Personal folgt18.
Die Textgestaltung in NA erklärt sich einerseits aus der Verkennung
des griechischen Tempusgebrauchs, andererseits aus der bekannten
falschen Einschätzung der Bedeutung von „guten“ Handschriften.
17
E. Nestle, Einführung in das griechische Neue Testament (Göttingen 1909) 218 zur
Frage der Authentizität des Textes von D; siehe dort insgesamt 214-219. Ich zögere nicht,
mit Nestle auch Lk 13, 7 u. 8 den Text von D für den authentischen zu halten.
18
U. Victor, „Der Wechsel der Tempora in griechischen erzählenden Texten mit beson-
derer Berücksichtigung der Apostelgeschichte“ in: Die Apostelgeschichte und die hellenis-
tische Geschichtsschreibung, Festschrift für Eckhard Plümacher , ed. C. Breytenbach und J.
Schröter (Leiden 2004) 27-57, bes. 45f..